Wie viele andere Städte in Deutschland ist auch Jever eine Autostadt. Das soll sich jetzt ändern: Jever will auch Fahrradstadt werden. Der Verkehrsraum soll neu aufgeteilt werden und jahrzehntelange Fehler sollen behoben werden. Kann das gelingen?
Stadt- und Verkehrsplanung folgte über Jahrzehnte dem gleichen Schema. Straßen wurden für Autos gebaut und wenn am Rand noch etwas Platz übrig war, dann bekamen diesen RadfahrerInnen und FußgängerInnen. Wichtig war, dass der Autoverkehr möglichst störungsfrei fließen konnte. Deshalb gab es die sogenannte Radwegbenutzungspflicht. Wenn ein Radweg vorhanden war, musste dieser benutzt werden.
Das ist mittlerweile zum Glück anders, wenn auch meist nur in der Theorie. Die Radwegbenutzungspflicht ist seit 1998 aufgehoben und gilt seitdem nur noch für Radwege mit blauem Schild. Um solche Radwege auszuweisen gibt es aber strenge Kriterien, die in Jever (und anderswo) nur sehr selten erfüllt werden. Für die Planung von Radverkehrsanlagen gibt es mittlerweile gute und erprobte Planungsgrundsätze.
Statt die geänderte Rechtslage und die angepassten Planungsnormen als Chance zu begreifen und den Straßenraum für alle lebenswerter zu gestalten, wurde vielerorts (auch in Jever) der folgende Weg gegangen: Ehemals benutzungspflichtige Radwege sind einfach umgeschildert worden und sind nun ein Gehweg mit dem Zusatzschild „Radverkehr frei“. Rechtlich gesehen sollen Radfahrende hier also auf der Fahrbahn fahren und dürfen auf diesen Gehwegen mit Schrittgeschwindigkeit als Gast und besonders rücksichtsvoll fahren.
In der Praxis werden die Gehwege auch weiterhin falsch als „Radwege“ bezeichnet und sollen auch genauso weitergenutzt werden wie bisher und von vielen Radfahrenden, insbesondere SchülerInnen und SeniorInnen, werden sie das auch – schon zu ihrer eigenen Sicherheit. Viele AutofahrerInnen dulden nämlich keine Fahrräder auf „ihrer“ Fahrbahn. Es gilt das Recht des Stärkeren. Die Änderungen in der Strassenverkehrsordnung der letzten zwanzig Jahre sind bei einigen Verkehrsteilnehmern noch nicht angekommen. Es gibt in den Köpfen oftmals eine „gefühlte StVO“ mit Halbwahrheiten und erfundenen Regeln.
Dazu wurde bei anstehenden Baumaßnahmen viel zu lange nach veralteten Standards geplant und die Autostadt weitergebaut: Nach der Freigabe der Umgehungsstraße wurde die alte B 210 durch Jever in der Mühlenstraße autogerecht umgestaltet. Es wurden zwar beidseitig Geh- und Radwege erstellt, die aber zu schmal gebaut wurden. Der Radwegteil war nur handtuchbreit, der Gehweg kaum breiter. Mittlerweile sind die Wege nur noch Gehwege mit “Fahrrad frei“-Schild, erfüllen aber selbst dafür die Standards nicht, weil sie schlicht nicht breit genug sind. Platz wäre da gewesen: Auf beiden Seiten wurden aber großzügig Parkbuchten und Beete geplant. So steht man zukünftig vor dem Dilemma, dass man eine nicht einmal zwanzig Jahre alte Straße nochmal anfassen müsste, damit sie überhaupt dem heutigen Mindeststandard entspricht. In der Autostadt wird man sagen, dass es auf die paar Zentimeter nicht ankommt. Eine Fahrradstadt wird man so aber nicht.
Neben den vielen baulichen Infrastrukturmaßnahmen, die in den nächsten zehn Jahren angegangen werden müssen um die Fehlplanungen zu beheben und aus der Autostadt eine Fahrradstadt zu machen, gibt es eine zweite große Baustelle: Die Autostadt in den Köpfen der Menschen muss auch umgebaut werden. Das ist vermutlich die größere Aufgabe.
Über den Autor
von Oliver de Neidels
Mein Name ist Oliver de Neidels, ich bin 1979 geboren und wohne seitdem in der friesischen Kleinstadt Jever. Ich bin selbständig und habe ein kleines Unternehmen, das Webseiten wie diese hier baut.
Außerdem engagiere ich mich in der Lokalpolitik und bin Mitglied des Jeverschen Stadtrats. Meine Lieblingsthemen sind die Verkehrswende im kleinstädtischen Maßstab und der Umbau zur „Stadt von Morgen“.